Selbstüberwachung schützt…

Selbstüberwachung schützt vor Fremdüberwachung

Einige Menschen machen ihr Leben freiwillig im Internet öffentlich – andere würden auf die Observation gerne verzichten.

Bei der Überwachungsshow „TruemanTV“ streamt ein Deutscher sein Leben komplett im Web. Würden das alle 82 Millionen Bundesbürger tun, ertränken die staatlichen Überwacher in der Datenflut, glaubt Helmut Merschmann. Seine These: Selbstüberwachung ist der beste Schutz vor Observation.

Von Helmut Merschmann

Ortstermin bei „TruemanTV“. Seit 135 Tagen schleppt Marcel Kotzur eine Webcam mit sich herum, die jeden seiner Schritte aufzeichnet und ins Internet überträgt. Ein komplettes Jahr will er durchhalten. Noch zwei Tage wohnt er in einer WG in Berlin-Friedrichshain, direkt an der Spree. Nur ein paar hundert Meter flussaufwärts sitzen MTV, Viva und Comedy Central, dahinter Universal Music. Eigentlich kein schlechter Ausgangspunkt für eine Überwachungsshow.

Marcel führt mich in die Küche. Er ist erkältet und trinkt viel Wasser. Auf einem Tisch stehen Laptop, Webcam und Mikrofon bereit und zeichnen das Gespräch auf. Mir ist etwas unwohl. Marcel hat sich längst an die Überwachungssituation gewöhnt. Er benutzt die Geräte wie einen Spiegel.

Wenn Andrej Holm in den Spiegel blickt, weiß er nicht, ob ihm dabei jemand zuschaut. Der Sozialwissenschaftler wird vom Verfassungsschutz observiert. Weil der 37-Jährige, der an der Berliner Humboldt-Universität über Stadterneuerung forscht, Kontakte zu G8-kritischen Gruppen unterhält und sich an Demonstrationen in Heiligendamm beteiligt hat, wurde er am 31. Juli vergangenen Jahres verhaftet. Der Vorwurf lautet auf Mitgliedschaft in der damals als terroristisch eingestuften „militanten gruppe“. Drei Wochen lang war Andrej Holm in Untersuchungshaft. Seitdem wird er überwacht.

Selbst-Überwachung bei TruemanTV: „Marcel benutzt die Geräte wie einen Spiegel“

100.000 Euro für den Weg in die Freiheit

Marcel ist kein Intellektueller. Aber er hat einen Traum: Mit Freunden will er einen Bauernhof in Brandenburg bewirtschaften. Dafür braucht er Startkapital. Das soll die Überwachungsshow „TruemanTV“ einbringen. Auf der Website kann Werbung geschaltet werden, wovon ein Unterhosenhersteller, ein Tierfutterproduzent und ein Livestrip-Portal Gebrauch machen. Rentabel ist die Show noch nicht. Dabei gibt sich Marcel größte Mühe, zeigt beim Duschen schon mal sein blankes Hinterteil, lässt sich sein Brusthaar von einer Freundin mit Kaltwachs entfernen und sich bei der Backenzahnreparatur von einer Ärztin in Hypnose versetzen.

Inzwischen hat Marcel mit Erfolg an der RTL-Show „Der 100.000-Euro Mann“ teilgenommen und das Publikum seiner Webshow in die Hetzjagd eingebunden – mit den gewonnenen 100.000 Euro ist er dem Traum vom Bauernhof schon ein gutes Stück näher. Im Durchschnitt schauen ihm momentan bloß sechzig Leute zu. Marcels Alltag, der manchmal nur aus Chatten und Herumsurfen am Computer besteht, ist vielen zu langweilig.

Andrej Holm hat etwas zu häufig Begriffe wie „Gentrification“, „Prekarisierung“ und „politische Praxis“ in den Computer getippt. Aus den Akten der Bundesanwaltschaft, die ihm zum Teil ausgehändigt wurden, geht hervor, dass sein Verfahren mit einer polizeilichen Internetrecherche begann. Dabei kam eine linguistische Übereinstimmung mit Wörtern zu Tage, die auch von der „militanten gruppe“ benutzt werden. So schnell kann kritische Wissenschaft ins Raster der Ermittler geraten. Gerade unauffällige Personen, glaubt Andrej Holm, die polizeilich noch nie aufgefallen sind, passen ins Profil.

Zu Marcels Lieblingsfilmen zählen „Die Kinder von Golzow“. Die Langzeitdokumentation von Barbara und Winfried Junge begleitet seit 1961 die Bewohner eines Dorfes im Oderbruch auf ihrem Lebensweg. Teilnehmende Beobachtung nennt man diesen dokumentarischen Stil, der sehr behutsam aus der Materialfülle die Lebengeschichten herausschält und ein Sittengemälde der DDR und Nachwendezeit gezeichnet hat. „TruemanTV“ ist in seiner Unmittelbarkeit das Gegenteil davon. Die Nonstop-Beobachtung erlaubt keine Distanz, aus der heraus die Relevanz der 525.600 Echtzeit-Minuten sichtbar würde. Wer sich für Marcel interessiert, führt ein ähnliches Leben wie er.

Zweite Hausdurchsuchung noch am selben Tag

Wohin Andrej Holm und seine Freundin Anne Roth auch gehen – es bleibt den Augen der Ermittler nicht verborgen. Ihre Telefone und Handys werden abgehört, die E-Mails mitgelesen, Kameras überwachen den Hauseingang. Wie lange noch, wissen sie nicht. Als Andrej Holm aus der Untersuchungshaft entlassen wird und mit seiner Mutter am Telefon über einen „schwarzen Beutel“ spricht, in dem einige Ermittlungsakten steckten, kommt es noch am selben Tag zu einer zweiten Hausdurchsuchung. Seitdem bemühen sich alle, am Telefon so präzise wie möglich zu sein.

Anne Roth hat sich gegen „die Atmosphäre der Angst und Einschüchterung“ auf eigene Art zur Wehr gesetzt. Sie hat das Webblog „annalist“ gegründet, worin sie aus dem „Innenleben eines Terrorismus-Verfahrens“ berichtet. Beispielsweise darüber, wie sich das eigene Verhalten bei Beschattung verändert. Ironie, erzählt sie, verbitte sich am Telefon: „Das verstehen die Ermittler nicht.“ Auch schlechte Telefonleitungen, Knacken und Rauschen, bergen die Gefahr, dass es am unsichtbaren anderen Ende zu Fehlinterpretationen kommt. Deswegen: Flucht nach vorn in die Transparenz.

Womit wir wieder bei „TruemanTV“ wären. Die öffentliche Selbstüberwachung scheint der beste Schutz vor Observation zu sein. Wenn alles zu sehen ist, ist eigentlich nichts mehr sichtbar. Wie bei den pietistischen Niederländern, die keine Gardinen vor den Fenstern haben, weil sie ein anständiges Leben führen und nichts zu verbergen haben, käme niemand auf die Idee, im Vorbeigehen durchs Fenster zu schauen. Spaßeshalber stelle ich mir vor: Alle 82 Millionen Einwohner Deutschlands präsentieren sich live und nonstop im Netz. Die Vorratsdatenspeicherung wäre überflüssig, der Kontrollapparat würde zusammenbrechen – das Internet auch.

Quelle: 1+1

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