Remix it, Baby: Die neue Musiksoftware macht es möglich – nehme zwei, drei alte Hits, kombiniere sie miteinander und schon hast du einen neuen Song. Das Ganze ist fast schon obszön einfach. Aus Dilettanten werden Kinderzimmerproduzenten, die Bootleg- und Bastard-Pop-Szene boomt wie nichts Gutes
TILMAN BAUMGÄRTEL
Ein etwas zäher Abend im Ostgut, einem Club in Berlin. Der DJ spielt seit einer halben Stunde Stücke mit demselben stampfenden Rhythmus; zwischen einem Track und dem nächsten ist kaum ein Unterschied. Etwas lustlos bewegt sich die Menge auf der Tanzfläche zu den monotonen Klängen.
Doch plötzlich schält sich aus den hämmernden Sounds ein eleganter, elektronischer Beat heraus, pulsierend und kalt funkelnd wie der Polarstern. Der Track klingt gleichzeitig vertraut und aufregend neu. Ist das nicht …? Das klingt doch wie …? Doch noch bevor der Hörer das Stück „Numbers“ von Kraftwerk erkannt hat, jauchzt im Hintergrund eine Frauenstimme auf, die in diesem Stück eigentlich nichts verloren hat. Ihr Summen und Singen wird lauter und klarer, geht plötzlich in eine ebenfalls vertraute Melodie über. Es ist „I wanna dance with somebody who loves me“, gesungen von Whitney Houston.
Ist das ein Remix? Lässt der DJ zwei Platten gleichzeitig laufen? Den Tänzern im Ostgut ists egal. Es ist, als wäre plötzlich aus der Decke eine Discokugel heruntergefahren, die die Tanzfläche in ihr flackerndes Licht taucht. Die vorher etwas lustlose Menge ist wie ausgewechselt.
Das Stück, das aus einem lauen Abend für einige Minuten ein Fest gemacht hat, heißt „I wanna dance with numbers“. Es stammt von einem gesichtslosen Studioprojekt namens Girls on Top, hinter dem ein genauso gesichtsloser Tüftler namens Rich X steht. Auf dem Cover seiner Platte ist nicht er selbst zu sehen, sondern die vier Kraftwerk-Roboter, über deren Gesichter ein Porträt von Whitney Houston geklebt ist.
„I wanna dance with numbers“ gehört zu einem neuen Subgenre der elektronischen Musik, das sich „Bastard Pop“ oder „Bootlegs“ nennt, oft ist auch von „Do-it-yourself-Remixen“ die Rede. Doch wie immer man es nennen mag: „Booties“ sind Songs, die aus Songs bestehen. Meist sind diese Tracks aus zwei, maximal drei anderen Songs zusammengesetzt – und je größer die Fallhöhe zwischen den verschiedenen Bestandteilen, umso besser. Dann trifft sich „Bring the noise“ von der Agit-Rap-Formation Public Enemy mit Dexys Midnight Runners „Come on Eileen“ zu einem postmodernen Soundclash. „Die besten Bootlegs sind wie Autounfälle“, schreibt der englische Musikkritiker Pete Baran. „Meist abscheulich, aber auch von einer seltsamen Faszination.“
Die meisten dieser musikalischen Karambolagen werden von Produzenten mit Pseudonymen wie Freelance Hellraiser oder Cassette Boy hergestellt. Die Klarnamen der Produzenten herauszubekommen ist schwieriger, als ihre E-Mail-Adresse in Erfahrung zu bringen. Denn Anonymität ist wichtig, wenn man Musik macht, die ausschließlich aus geklautem „urheberrechtlich geschütztem Material“ (wie es im Musikbusiness-Jargon heißt) besteht und wegen der die Rechtsabteilung jeder Plattenfirma kollektiv in Ohnmacht fallen würde – wenn sie nur davon wüsste. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen kursieren diese Stücke fast ausschließlich als MP3-Dateien im Internet: Auf obskuren Websites, die oft über Nacht verschwinden, weil der Provider Angst bekommen hat, wegen Verstößen gegen das Urheberrecht belangt zu werden.
Denn natürlich hat niemand jemals die Rechte für die Songs erworben, die er am Computer miteinander verkuppelt. Die meisten Bootlegger sind Amateurmusiker, viele von ihnen Teenager. Der namenlose Betreiber der Website „Boomselection“, die einen guten Überblick über die Bootlegger-Szene bietet, brüstete sich vor kurzem damit, endlich fünfzehn geworden zu sein.
Im trendbewussten Großbritannien, wo die meisten Bootlegs produziert werden, kommt zurzeit kein Musik- oder Lifestyle-Magazin an dem Thema vorbei. Die Veranstaltung „King of the boots“ in London, bei der jeden Monat Bootlegger ihre neuesten Produktionen vorstellen, muss regelmäßig wegen Überfüllung geschlossen werden.
Rich X von Girls on Top hat nach seinem Überraschungserfolg mit „I wanna dance with numbers“ bereits einen Plattenvertrag mit Virgin abgeschlossen. Die Plattenfirma will nun für ihn die Rechte an jedem Song klären, den er bearbeiten will. Und bei der Verleihung der Musikpreise Brit Awards ist im vergangenen Monat zum ersten Mal ein Stückchen Bastard Pop im Mainstream gesichtet worden: Kylie Minogue präsentierte eine Version ihres Hits „Cant get you out of my head“, die mit New Orders „Blue Monday“ verschnitten war. Die Version soll auf der B-Seite von Kylie Minogues nächster Single erscheinen.
Natürlich, derartige Cut-ups von verschiedenen Songs gibt es nicht erst seit den Bootlegs. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben verschiedene E-Musik-Komponisten mit Klangcollagen aus Fremdmaterial herumexperimentiert; John Cages „Cartridge Music“ bestand ebenfalls ausschließlich aus am Plattenspieler manipulierten Songs.
In der Popmusik tauchte dieses Verfahren in den Siebzigerjahren im sich entwickelnden HipHop auf: New Yorker DJ-Größen wie Afrika Bambaataa, Grandmaster Flash and DJ Kool Herc kombinierten beim Auflegen Material aus den verschiedensten Songs miteinander, um den Sprechgesang der Rapper zu begleiten. So bekam etwa der Basslauf von Chics „Good Times“ quasi ewiges Leben: Er bildete die Grundlage des ersten, weltweiten Raphits „Rappers Delight“ und taucht noch heute regelmäßig bei HipHop-Produktionen auf.
Ab Mitte der Achtzigerjahre wurde die Methode, Musik aus der Musik von anderen zusammenzustückeln, durch eine technische Innovation erleichtert: durch die ersten bezahlbaren digitalen Sampler, mit denen man Stückchen aus den Stücken anderer zu eigenen Tracks zusammenbasteln konnte. Das Stück „I know you got soul“ von Eric B. und Raakim war einer der ersten Sampling-Hits: Ein Song, der unter anderem aus Fitzelchen von „I want you back“ der Jackson 5, Schreien von James Brown und einem jemenitischen Schlager von Ofra Haza zusammengeschustert worden war. Steinski, Coldcut, KLF und S-Express schneiderten mit dieser Methode einige kurzlebige Hits zusammen. Auf der experimentelleren Seite, die mehr an politischen und ästhetischen Aspekten von Plagiat und Rekontextualisierung interessiert war, standen „Plunderphonics“-Gruppen wie Negativeland oder die Tape Beatles.
Bis heute werden viele House- oder HipHop-Songs um ein Sample aus einem alten Song entwickelt, und auch ein Pop-Hit wie „Supreme“ von Robbie Williams bedient sich großzügig bei den Arrangements von Gloria Gaynors „I will survive“. Methodisch ist das nicht allzu fern von den Bootlegs. Der Unterschied liegt in der Ausführung: Während an dem Robbie-Williams-Song oder an einem durchschnittlichen House-Track Hunderte Stunden lang herumgetüfelt worden ist, sind die meisten Bootlegs roh zusammengehauene Kombinationen, die „man schneller gemacht als aus dem Internet hergeladen hat“, wie es auf einer Website zum Thema Bootlegs heißt.
Bootlegs wären ohne MP3s von Musiktauschbörsen wie Morpheus oder Kazaa und Shareware-Software wohl nicht entstanden. Mit Hilfe von Programmen wie der Musiksoftware Acid ist es nicht schwierig, an einem ganz normalen Heimcomputer zwei Stücke so aneinander zu legen, dass sie klingen, als seien sie füreinander gemacht worden. Das Programm, das für 150 Mark auch in Deutschland verkauft wird und auf jedem Pentium-Rechner läuft, passt Tonhöhe und Geschwindigkeit der verschiedenen Tracks automatisch aneinander an. „Mit Acid ist es fast schon obszön einfach, Musik zu machen“, schrieb das Musician Magazin in einer Kritik des Programms. Was vorher nur fingerfertigen DJs oder geduldigen Studiobastlern gelang, erledigt dieses Programm von selbst: die Synchronisation von zwei verschiedenen Tracks.
Das klingt vielleicht nicht ganz so glatt wie eine Robbie-Williams-Single, aber gerade in der Rauheit und in der holprigen Direktheit besteht auch der Reiz des Bastard-Pops. Als Produktionsmethode erinnert es an die legendäre Anweisung aus einem Punk-Fanzine der Siebzigerjahre, drei Akkorde auf der Gitarre zu lernen und eine Band zu gründen. Auch die ultraknappen, nonchalanten Songtitel (meist nicht mehr als „Eminem vs. Britney“) sind geprägt von einer punkigen Rotzigkeit und Verweigerungshaltung.
Wie der frühe Punk, aber auch wie die ersten Sample-Rave-Hymnen aus den Achtzigerjahren feiern die Booties den „Do-it-yourself“-Aspekt von Popmusik. Es ist eine Musik von Dilettanten und Nichtmusikern, von Konsumenten, die zu Kinderzimmerproduzenten geworden sind. Und es sind genau zuhörende Konsumenten: In ihren feinsten Momenten werfen Bootlegs ein anderes Licht auf einen spezifischen Aspekt eines Stücks. Sie haben an einem Track etwas bemerkt, was noch niemandem aufgefallen ist, und das kitzeln sie heraus.
Letztlich ist der historische Urgrund für all diese Praktiken in der Popmusik natürlich das Prinzip der Collage, eine Entdeckung der modernistischen Avantgarde. In etwas slackerhaftem Understatement erläutert das Internet-Fanzine World Pop: „Die naheliegendste Referenz, wenn wir euch mal etwas prätentiös kommen dürfen, ist – hüstel hüstel – Marcel Duchamp. Ihr wisst schon, dass man etwas Neues und Schönes schafft, indem man vorgefundenes Material miteinander kombiniert …“ Die Konfrontation von verschiedenen Songs schlägt in ihren besten Momenten nach wie vor so helle intellektuelle Funken, wie es sich die collagierenden Dadaisten und Konstruktivisten zu Beginn unseres Jahrhunderts gewünscht haben.
Gleichzeitig spielt sie mit einem unendlich verfeinerten abrufbaren Wissen über Popkultur, von dem man vor dreißig Jahren zu Beginn der Postmoderne nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Während es in einer gar nicht so fernen Zeit genügte, Popstilen durch Zitat eine Reverenz zu erweisen, muss es nun schon eine so vergleichsweise delikate Kombination wie das Zusammentreffen von TLC und Human League (Girls on Top: „Being Scrubbed“) sein, um die Sinne der Pop-Connaisseure überhaupt noch zu reizen.
Der Preis dafür ist natürlich immer das Risiko juristischer Schwierigkeiten. Rich X: „Ich wollte mit ‚I wanna dance with numbers‘ ein Stück machen, das vollkommen illegal ist.“ Bei HipHop-Alben wie denen von Dr. Dre sind inzwischen halbe Anwaltskanzleien damit beschäftigt, die Copyrights für bestimmte Bassläufe oder Drumpatterns zu erwerben.
Rich X glaubt allerdings, dass er den Musikern, deren Songs er als Rohmaterial verwendet, finanziell nicht geschadet hat: „Bei den acht Songs, die ich verwendet habe, fanden es vier der Bands toll. Das Geld, das ihnen dadurch entgangen ist, entspricht etwa dem Preis eines Happy Meals bei McDonalds.“
28.03.2002
Quelle: taz